Bilsenkraut, Solanaceae.
Name:
Hyoscýamus níger L. Schwarzes Bilsenkraut. Französisch: Jusquiame (noire), herbe aux dents, herbe aux chevaux; englisch: Belene, hen-bell, stinking roger; italienisch: Guisquiamo (nero), dente cavallino, erba del dento, alterco, cassilagine; dänisch: Bulmeurt; norwegisch: Bulmeurt, villrot; litauisch: Drigne; polnisch: Lulek; russisch: Bielena; schwedisch: Bolmört; tschechisch: Blin černý; ungarisch: Beléndek.
Verbreitungsgebiet
Weiteres Vorkommen: Nord-u. Westasien, Nordafrika, In Ostasien, Nordamerika, z. T. in Australien eingebürgert.
Namensursprung:
Hyoskyamos ist der Name des Bilsenkrautes bei Dioskurides und kommt vom griechischen ς (hys) = Schwein und χαμος (kyamos) = Bohne; angeblich weil die Pflanze für die Schweine besonders giftig sein soll, nach einer anderen Erklärung, weil die Schweine sie, ohne Schaden zu nehmen, fressen sollen. Der Name Bilsenkraut ist sehr alt und findet sich bei allen nordeuropäischen Indogermanen. Hoops vermutete eine indogermanische Wurzel „bhel“, die Phantasie oder ähnliches bedeutet, so daß das Bilsenkraut das „Phantasie-“ oder Tollkraut wäre. Das Bilsenkraut hieß im Altertum auch Apollinaris nach Apollo, dem Gott der Wahrsagerei. Nach einer anderen Deutung soll das Wort der Sprache der alten Kelten, die einen Gott Belenos verehrten, entstammen.
Volkstümliche Bezeichnungen:
Bilsem (Schwäbische Alb), Bilse-Chrut (Schweiz). Die Samen bezeichnet man in der Pfalz als Bilselsamen, in Oldenburg als Bilsensâd. Eine andere Gruppe von Namen geht auf die giftigen („toll machenden“) Eigenschaften der Pflanze: Dull-, Düllkrut, Dull Dill(en) (nordwestliches Deutschland), Dull Billerkruth (Mecklenburg). Bei Zahnschmerzen wird der Rauch der verbrennenden Samen eingeatmet, dann werden die (nach der Volksmeinung) den Schmerz verursachenden „Würmer“ des hohlen Zahnes getötet: Zahnkraut (Tirol: Linz), Apolloniakraut, die hl. Apollonia ist die Patronin der Zahnleidenden. Auf das Aussehen der Blüte bezieht sich wohl Teufelsaug’n (österreich), auf das der Kapselfrüchte Becherlkraut (Niederösterreich), Schüße(r)lkraut (Steiermark).
Botanisches:
Das Bilsenkraut ist eine drüsenhaarig-zottige, klebrige Pflanze von widerlichem Geruch. Sie wird bis zu 80 cm hoch. Die Blätter sind buchtig gezähnt, die oberen sitzend und halbstengelumfassend, die unteren gestielt. Die fast ungestielten Blüten bilden einseitswendige Wickel. Die Blumenkrone ist trichterförmig, fünflappig, trüb schwefelgelb mit fein-violettem Adernetz, im Grunde ganz violett. Sie enthält fünf Staubgefäße, die unten dicht behaart sind. Aus dem Fruchtknoten wird eine zweifächrige, vielsamige Kapsel, die von dem vergrößerten Kelch umschlossen ist. Sie öffnet sich an der Spitze mit einem aufspringenden Deckel. Blütezeit: Juni bis Juli. Das Bilsenkraut ist eine typische Dung- (Ruderal-) Pflanze, die viel Stickstoff im Boden verlangt (nitrophil). Ihre Asche enthält angereichert 44,7% Phosphorsäure und das Spektrum zeigt eine starke Lithium-Linie.
Hyoscyamus ist eine bezüglich der Einwirkung von Düngung oft geprüfte Pflanze. Wie Boshart und Klan feststellten, wird durch Stickstoffdüngung der Alkaloidgehalt erhöht, während Kalidüngung die gegenteilige Wirkung ausübt. Dojarenko fand, daß Stallmist den Ernteertrag um 37,5% steigerte und gleichzeitig den Alkaloidgehalt um 33% herabsetzte. Ich fand, daß eine Düngung mit sich zersetzenden Tierleichen den Hyoscyamingehalt bei Datura stramonium stärker erhöhte als Stickstoffdüngung. Nach Klan haben die Blätter, am Morgen gesammelt, bis 0,007% Alkaloid. Scopolamin läßt sich nur in den Pflanzen mit einem besonders starken Alkaloidgehalt nachweisen, bei Pflanzen, die z. B. mit Stickstoff und Phosphor gedüngt wurden. Sonst enthält die Pflanze nur Hyoscyamin.
Nach mehreren heißen und trockenen Tagen mit hoher Luft- und Bodentemperatur und langer Sonnenscheindauer nahm der Alkaloidgehalt ab.
Geschichtliches:
Das Bilsenkraut gehört zu den ältesten Giftpflanzen, die die indogermanischen Völker benutzten. Aber auch den Babyloniern, Ägyptern, Indern, Persern und Arabern war es sicher bekannt und wurde von ihnen als Heilmittel verwandt. Die Hippokratiker kennen es als Giftpflanze und Dioskurides beschreibt bereits vier Hyoscyamusarten und sagt, daß sie Wahnsinn und Lethargie verursachen, und daß die frischen Blätter als Umschlag schmerzstillend wirkten. Den Essig, in dem die Bilsenkrautwurzel gekocht wurde, empfiehlt er als Mundspülwasser bei Zahnweh. Nach Plinius soll man bei Zahnschmerzen den Rauch der getrockneten Pflanze einatmen. Im Mittelalter ersetzte das Bilsenkraut in den deutschen Operationssälen das Chloroform. Die Anwendungsweise in der Medizin blieb jedoch eine ziemlich beschränkte, bis im Jahre 1762 Störck auf die Dienste hinwies, die das Bilsenkraut bei Krämpfen, Zittern und Epilepsie leisten könnte. Umschläge aus frischen Hyoscyamusblättern sollten den Verlauf der Blattern abschwächen und der Entstehung von Narben vorbeugen. Weinmann berichtet, daß das Bilsenkraut bei den Bauern als bestes Vertilgungsmittel gegen Ratten und Mäuse galt und daher viel gesammelt und auf den Speichern ausgelegt wurde. In den Büchern des Mittelalters über Fisch- und Vogelfang findet das Bilsenkraut öfters Erwähnung und wird in verschiedenen Rezepten, die zum Betäuben der Fische oder Anlocken der Vögel dienten, aufgeführt. So wird in den „Wohlbewährten Fischgeheimnissen“ (1758) vorgeschrieben: „Nimm ein Loth Kraenäuglein, zwey Loth Bilsensamen, ein Loth Eitstein, für einen Pfennig Käse, einen Löffel voll Brandenwein, einen Löffel voll Honig, eine Handvoll Weizenmehl, mache es zusammen in einen Klumpen, wirffs ins Wasser.“ Näheres darüber vgl. bei Zaunick, „Die Fischerei-Tollköder in Europa vom Altertum bis zur Neuzeit“ (1928). – Es gehört zu den Pflanzen, die oft Vergiftungen bei Tieren und Menschen hervorgerufen haben. In den meisten Fällen traten sehr beunruhigende Vergiftungssymptome hervor, doch endeten sie fast immer glücklich. Potovillat berichtet von einem Fall, wo 9 Personen durch eine Suppe, in die versehentlich Bilsenkrautwurzeln gekommen waren, vergiftet wurden. Es stellte sich bei allen krampfhaftes Lachen und heftige Raserei ein, sie bekamen Zuckungen, Verzerrungen des Mundes und der Glieder. Als sie durch geeignete Mittel wieder gebessert waren, litten sie noch an Doppelsehen und anderen Gesichtstäuschungen. Daß schon die Ausdünstung der Pflanze Vergiftungserscheinungen hervorrufen könne, geht aus dem Bericht des Holländers Boerhaave hervor, der durch die Zubereitung eines Bilsenkrautpflasters in einen trunkenen Zustand versetzt worden sein soll. Mit Bilsenkraut wurde in Shakespeares „Hamlet“ der König vergiftet. Der Geist des gemordeten Vaters erscheint dem Dänenprinzen und spricht:
„… Da ich im Garten schlief, Wie immer meine Sitte nachmittags, Beschlich dein Oheim meine sich’re Stunde, Mit Saft verfluchten Bilsenkrauts im Fläschchen. Und träufelt in den Eingang meines Ohrs So mit des Menschen Blut in Feindschaft steht, Daß es durch die natürlichen Kanäle Des Körpers hurtig wie Quecksilber läuft.“Daß das Bilsenkraut einen Bestandteil der Hexensalben bildete, mit denen sich nach den mittelalterlichen Glauben die Hexen vor ihrem angeblichen Flug durch die Luft einrieben, hängt sicher damit zusammen, daß die Solanaceengifte Gefühle des Fliegens und Visionen hervorrufen, wie man sie den Hexen als wirklich erlebt vorwarf. Darauf ist auch zurückzuführen, daß es allgemein in der Zauberei eine große Rolle spielte; auch heute verknüpfen sich noch einige Volksbräuche damit. Übrigens bedienten sich auch die Bierbrauer früher der Pflanze, um ihre Getränke berauschender zu machen. In der Mongolei gebraucht man das Kraut gegen Parasiten. In Algerien sollen sich die Eingeborenen der Blätter als Schmerzstillungsmittel, besonders bei Augenschmerzen, bedienen. Auch glauben sie, daß der Gebrauch der Pflanze Korpulenz erzeuge.
Wirkung
Hippokrates und Paracelsus wandten die Pflanze oft an. Matthiolus bezeichnet sie als schlafbringend und blutstillend. Osiander erwähnt sie gleichfalls, und einer besonderen Wertschätzung scheint sie sich bei Hufeland erfreut zu haben, der sie außerordentlich häufig als krampflösendes, beruhigendes Mittel verordnete.
Hofrat Wendt sah gute Erfolge des Bilsenkraut-Extraktes bei zirrhösen und schmerzenden Verhärtungen des Uterus.
Nach Harley wirkt das Mittel in kleinen Gaben als Sedativum bei kardialem und bronchialem Asthma, Nierenkolik, spastischen Affektionen des Urogenitalapparates, Hypochondrie und emotionaler Epilepsie.
In der englischen Medizin wird es oft als Opiumersatz angewandt, da es weder Verstopfung noch Nausea hervorruft.
Stephenson und Churchill erwähnen auch die externe Anwendung gegen skrofulöse und karzinomatöse Ulzera, Hämorrhoiden und andere schmerzhafte Affektionen.
In der russischen Volksmedizin wird das Bilsenkraut sehr häufig in Form von Dämpfen bei Zahnschmerzen benutzt. Die Blätter und Wurzeln werden auch bei Erkältungsschmerzen, Rheumatismus und Schwellungen aufgelegt. Innerlich wird das Mittel gegen Fieber und in kleinen Dosen gegen Schlaflosigkeit angewandt.
Nach Leclerc ähneln die Wirkungen des Hyoscyamus so weitgehend denjenigen der Belladonna, daß eine eingehende Indikationsangabe sich erübrigt. Nach ihm wird man dem Bilsenkraut den Vorzug geben, wenn man die anästhesierenden und antispasmodischen Wirkungen kombinieren will bei der Behandlung von Geisteskrankheiten, bei denen die Belladonna eine zu starke Gehirnreizung ausüben würde. Auf der anderen Seite empfiehlt er es bei Krankheitszuständen, die mit ständigen Bewegungen der Muskeln der Finger und Füße, seltener der des Halses und Gesichts, einhergehen. Bei diesen athetotischen Bewegungen, beim Zittern, der Quecksilbervergiftung, der hysterischen Chorea und endlich der Parkinsonschen Erkrankung ist es nach ihm und zahlreichen französischen Autoren das Mittel der Wahl. Bei dem Zittern der Greise sah Leclerc wenigstens vorübergehenden Erfolg. Die beruhigende Wirkung kommt bei der Anwendung gegen Spasmen des Magen- und Darmtraktus, der Blase und bei vagotonischen Zuständen, die mit diesen Krampfzuständen einhergehen, zur Geltung.
Die Wirkung von Hyoscyamus beruht im wesentlichen auf den Alkaloiden Scopolamin (Hyoscin) und Hyoscyamin. – Das Scopolamin ähnelt in seiner peripheren Wirkung weitgehend dem Atropin und dem l-Hyoscyamin, allerdings halten die Wirkungen auf Drüsen, Herz, Pupillen usw. nicht so lange an. Dementsprechend sind Mydriasis und Akkommodationsstörungen Erscheinungen auch der Scopolaminvergiftung. Das Scopolamin verdankt seine therapeutische Bedeutung in erster Linie der zentralen Wirkung, die von der zentralen Wirkung des Atropins durch eine primäre Lähmung mancher Großhirnzentren unterschieden ist. Es beseitigt die Erregung motorischer Zentren, wahrscheinlich infolge der Einwirkung auf die Basalganglien, so daß die Muskeln erschlaffen, die Sprechbewegungen gestört werden und Schlaf eintritt. Diese Lähmung kann auch auf das Atemzentrum übergreifen und Herzkollaps verursachen.
Miles beobachtete Erinnerungsstörungen. Die Empfindlichkeit der Menschen gegen Scopolamin ist anscheinend recht verschieden Hinsichtlich Einzelheiten der Wirkung des Scopolamins muß auf die zusammenfassenden Darstellungen in Heffters Handb. der experimentellen Pharmakologie, im Lehrbuch von Meyer-Gottlieb, Experimentelle Pharmakologie, usw. verwiesen werden.
Charakteristisch ist bei den meisten Scopolamin-Vergiftungen das Auftreten des Babinski-Reflexes. Das l-Hyoscyamin unterscheidet sich vom racemischen Hyoscyamin, dem Atropin, in seiner Wirkung nur quantitativ, und zwar wirkt es stärker. Auch in anderen Solanaceen dieser Gruppe ist das Hyoscyamin vorwiegend in der l-Form anwesend. Einzelheiten der Wirkung s. b. Belladonna, ferner in der zusammenfassenden pharmakologischen Literatur. Die periphere Wirkung ist wie beim Scopolamin eine Lähmung der parasympathischen Nervenendigungen. Es kommt zur bekannten Sekretionseinschränkung, Pupillenerweiterung, Darmruhigstellung, Bronchialerweiterung usf. Durch Aufhebung der Vagushemmung wird die Herzaktion beschleunigt, ferner Herzblock beseitigt, wenn er auf übermäßiger Vagushemmung beruht. Die zentrale Wirkung äußert sich in cerebraler Aufregung, unruhigen, hastigen Bewegungen, Zittern, verwirrten Reden, Gesichtshalluzinationen und Delirien, einem Zustand, der 24-36 Stunden anhalten kann (s. auch Belladonnavergiftung).
Hyoscyamus verursacht ferner Schwellung und Oedeme einzelner Körperteile, ziemlich schnell schwindende Erytheme, scharlachartig mit Jucken und Brennen, Urtikaria, meist gemischt mit roten Flecken, Pusteln und purpuraartige Ausschläge.
W. Osetzky berichtet von einer Massenvergiftung, an der 66 Personen (Arbeiter einer Zuckerfabrik) nach einem gemeinsamen Abendessen erkrankten, welches u. a. aus einem Hirsebrei bestand, der bei der Untersuchung eine Verunreinigung mit 1,75% Samen des Bilsenkrautes ergab. Bei den erkrankten Personen zeigten sich allgemeine Schwäche, Rötung des Gesichtes, starke Erweiterung der Pupillen, beschleunigter Puls und starke Erregungszustände. Am nächsten Tage gingen die meisten der Erkrankten wieder an die Arbeit, die anderen erholten sich nach einigen Tagen. Todesfälle kamen bei dieser Massenvergiftung keine vor. Der Umstand, daß trotz der großen Menge der Bilsenkrautsamen, die gegessen wurden, keine schweren Folgen auftraten (vorausgesetzt, daß jeder Arbeiter minimal 200 g von der Grütze, d. h. 3,5 g des Bilsenkrautsamens genoß, was die medizinische Maximaldosis [0,2 g] beinahe zwanzigmal übertrifft), bestätigt nach Osetzky die Erfahrung, daß die Alkaloide, welche das Bilsenkraut enthält, nämlich Hyoscyamin und Atropin, bei hoher Temperatur (beim Kochen des Breis) zum Teil zersetzt werden.
Olbrycht beschreibt eine kriminelle Vergiftung mit Bilsenkrautsamen, bei der 125 ccm der Samen einem Graupengericht zugefügt worden waren. Kurz nach dem Kosten der Milchgraupen zeigten sich Schwäche und Kraftlosigkeit, Nichtsehenkönnen, Pupillenerweiterung, Gesichtsröte, Anschwellen der Hände, Trokkenheit, Kratzen im Munde und Rachen, Steifwerden der Zunge, bei der jüngsten Vergifteten (zweijährig) Exophthalmus, bewußtloser Blick, Krämpfe der Hände und Füße.
Die aus der frischen Pflanze bereitete Tinktur hat einen Alkaloidgehalt von 0,007-0,01% berechnet auf Hyoscyamin. Stellt man die Tinktur dagegen nicht nur aus dem Preßsaft, wie das HAB. es angibt, sondern aus der ganzen frischen Pflanze her, so läßt sich der Alkaloidgehalt von 0,01 auf 0,02% erhöhen.
Hahnemann schildert einen Teil der homöopathischen Wirkungsweise des Bilsenkrautes wie folgt: „Das Bilsenkraut hat Krämpfe, welche viel Ähnlichkeit mit der Fallsucht hatten, auch wohl dafür gehalten worden sind (nach Stoerck, Collin und anderen), gehoben, weil es der Fallsucht sehr ähnliche Zuckungen erregen kann, m. s. El. Camerarias, Chph. Seliger, Hühnerwolf, A. Hamilton, Planchon, Costa und andere. – Nicht umsonst hat Greding vom Bilsenkraute einen trockenen, krampfhaften Husten entstehen sehen; dies sollte uns zeigen, daß es ein kräftiges Heilmittel in ähnlichen Husten sey, wie auch Friccius, Rosenstein, Dubb und Stoerck erfahren haben.“
Nach Stauffer wird Hyoscyamus in starken Dosen (1.-3. Dez.) bei Kitzel- und Krampfhusten gegeben, in mittleren Verdünnungen (D 4-D 6) bei Lähmungen und Kollapserscheinungen, bei Erregungszuständen und Krämpfen werden noch höhere Verdünnungen bevorzugt.
Anwendung in der Praxis auf Grund der Literatur und einer Rundfrage:
In der Schulmedizin ist Hyoscyamus durch die Einführung der Brom-Präparate fast vollständig verdrängt worden. Dies ist zu bedauern, denn die Pflanze gehört zu unseren wirksamsten Arzneimitteln. Sie wirkt ähnlich wie Belladonna auf das vegetative Nervensystem und kann darum auch bei den schweren Erkrankungen des Parkinsonismus, Paralysis agitans, senilem Tremor als Wechselmittel oder auch als Ersatzmittel der letzteren mit gutem Erfolge angewendet werden. Sie unterscheidet sich aber doch von der Belladonna durch eine ausgeprägte schmerzstillende und beruhigende Wirkung. Sie nähert sich in dieser Beziehung der Wirkung des Opiums, von dem sie sich grundsätzlich dadurch unterscheidet, daß sie keine Obstipation hervorruft. Man kann die Wirkung beschreiben als zwischen Opium und Belladonna liegend. Mit Opium gemischt bringt sie eine starke Wirkungssteigerung hervor. Bekannt ist die Scopolamin-Morphiummischung zur Einleitung des Dämmerschlafes.
Außerordentlich beliebt ist jedoch die Anwendung noch heute in der Homöopathie. Wir verdanken der homöopathischen Praxis eine sehr wichtige und beliebte Indikation, nämlich die gegen Reiz-und Krampfhusten. Im einzelnen verordnet man Hyoscyamus in der Homöopathie sehr häufig bei Delirien, Meningitis, Cephalitis, Geistesstörungen*) (manisch-depressivem Irresein, Schizophrenie), bei Krämpfen (Epilepsie, Chorea minor, Gesichtskrampf, Trismus) mit bleichem, eingefallenem Gesicht, im Gegensatz zu den „Belladonna-Krämpfen“, Nymphomanie, Hysterie, Schlaflosigkeit, Paralysen (Nervenlähmung, drohende Gehirnlähmung, Schüttellähmung, Genickstarre); ferner bei Sehstörungen (hier konnte von der Wiesche das Schielen bei einem zurückgebliebenen Kinde beseitigen), Nystagmus, Lichtscheu, Kopfschmerzen und Neuralgien (hier äußerlich). Ensinger, Haltingen, bezeichnet das Bilsenkraut als das beste Mittel bei Aufregungszuständen der Arteriosklerotiker und Delirien der Alkoholiker, insbesondere der heimlichen Schnapstrinker, und Fröhlich lobt es sehr bei Singultus nach Bauchoperationen.
Ganz ausgezeichnet wirkt Hyoscyamus, wie schon erwähnt, bei Krampf- und Reizhusten, auch Pertussis mit nächtlichen gehäuften Anfällen und Erstickungsgefühl, das sich nur beim Aufsitzen bessert. Bei solchen Anfällen läßt Donner um 8, 9 und 10 Uhr abends 3 Tropfen Hyoscyamus D 3 nehmen. Von mehreren Seiten wird hier auch Hyoscyamus „Teep“ D 2, 1-2 Tabletten, als besonders wirksam bezeichnet. Gelobt wird es weiter bei akutem und chronischem Bronchialkatarrh, Bronchialasthma, Laryngitis mit verlängerter Uvula (hier im Wechsel mit Kali chlor. D 4), Pneumonie, Kehlkopf- und Lungentuberkulose.
Schließlich ist es gegen drohenden Kollaps bei Typhus und Scharlach, Strangurie, Blasenkrampf und -lähmung, Cystopathien, Dysmenorrhöe, klimakterische Beschwerden und nach Hauer gegen zu frühe und zu starke Menses indiziert.
Das Öl der Droge wird von Dieterich, Stuttgart, als vielleicht bestes Eintropfmittel bei beginnender Otitis media (zwei- bis dreimal täglich einige Tropfen) bezeichnet.
Als Kontraindikation gilt die Erkrankung an Basedow. Stiegele beobachtete bei solchen Kranken nach Hyoscyamus D 3 das Auftreten schwerer manischer Zustände.
Als Wechselmittel werden u. a. Belladonna, Helleborus, Stramonium, Tarantula Oligoplex genannt, bei Krampfhusten werden Drosera und Corallium rubrum empfohlen.
+) Beispiel für die Anwendung:
(Nach Bonduel, „Biologische Heilkunst“ 1930, S. 729.)
Raymond M., 16 Jahre alt, Mechaniker, kam am 21. November ins Krankenhaus wegen Geistesstörungen mit großer Aufregung. Einige Tage zuvor war er an einer leichten Angina erkrankt, welche ganz normal geheilt war. Seine Gesundheit schien wieder hergestellt, als nach einer Auseinandersetzung mit seiner Mutter Zeichen von Geistesstörungen auftraten. Er wollte kein Essen zu sich nehmen und war so aufgeregt, daß seine Angehörigen sich entschlossen, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Die Zeichen waren folgende: Er versuchte dauernd aufzustehen, er wanderte im Saale umher, unterhielt sich mit nicht vorhandenen Personen, besonders seinem Bruder, und sprach andauernd von Maschinen und Flugzeugen. Manchmal war er ruhiger, blieb dann auf seinem Bett sitzen und machte ab und zu eine Bewegung, als wenn er ein imaginäres Insekt zwischen Daumen und Zeigefinger erhaschte. Dann wieder blieb er ganz ruhig mit starrem Blick dasitzen. Des Nachts schlief er nicht und sprach un-unterbrochen. Die ersten Tage konnte man ihm mit Mühe etwas Milch einverleiben. Die Temperatur war normal. Nach einigen Tagen der Behandlung mit Hyoscyamus D 6 war der Kranke viel ruhiger geworden. Die Nächte waren besser, er stand nicht mehr auf und fing auch an zu essen. Die Besserung schritt regelmäßig weiter. Gegen Mitte Dezember blieb nur noch eine kleine geistige Umnebelung zurück, welche auch durch Hyoscyamus in höherer Verdünnung zum Verschwinden gebracht wurde. Gleichzeitig besserte sich das Allgemeinbefinden progressiv, und der Patient nahm in 14 Tagen 12 Pfund zu.
Angewandter Pflanzenteil:
Hippokrates verschreibt die Frucht oder die Samen oder auch die Blätter.
Paracelsus läßt die Wurzel bzw. Wurzelrinde und die Samen verwenden.
Matthiolus führt die Verwendung von Blumen, Samen und Blättern an. v. Haller berichtet von der Verwendung der Blätter und des Öls aus den Samen. Die gleichen Angaben machen Hecker und Geiger.
In der neueren Literatur werden die Blätter bzw. die ganze Pflanze genannt.
Das HAB. läßt die Essenz aus der ganzenfrischen, blühenden Pflanze herstellen (§ 1). Aus dieser wird auch das „Teep“ gewonnen.
Nach Untersuchungen von Dafert, Himmelbaur und Loidolt (Scientia pharmaceutica 1935, Heft 5) war der Gehalt der Alkaloidpflanze Hyoscyamus niger nach einer Regenperiode mit niederer Luft- und Bodentemperatur und kurzer Sonnenscheindauer höher als nach einer Reihe von heißen, trockenen Tagen mit hoher Luft- und Bodentemperatur sowie langer Sonnenscheindauer. Doch machen sich die Einflüsse der Witterung anscheinend erst als Nachwirkung längerer vorausgegangener Wetterperioden bemerkbar. Die Ernte wäre am besten während des Vollwachstums, und zwar nach einer Reihe regnerischer, trüber Tage und morgens durchzuführen. Sammelzeit: Juli bis September.
Folia Hyoscyami sind offizinell in allen Staaten.
Dosierung:
Übliche Dosis:
1-2 Tropfen der Tinktur einmal, wenn nötig dreimal täglich (Friedrich).
3-4 Tabletten Hyoscyamus „Teep“ forte bei Parkinsonismus.
(„Teep“ forte ist auf 50% Pflanzensubstanz eingestellt, d. h. 1 Tablette enthält 0,125 g Fol. Hyoscyami oder bei 0,14% Hyoscyamingehalt, berechnet auf trockene Pflanze, 0,18 mg Hyoscyamin.)
1-2 Tabletten Hyoscyamus „Teep“ mite abends bei Reizoder Kitzelhusten.
(„Teep“ mite ist auf 1% Pflanzensubstanz eingestellt, d. h. 1 Tablette enthält 0,0025 g Fol. Hyoscyami.)
In der Homöopathie:
dil. D 3-4.
Maximaldosis:
0,4 g pro dosi, 1,2 g pro die Fol. Hyoscyami (DAB. VI);
0,3 g pro dosi, 1 g pro die Fol. Hyoscyami (Helv.).
0,15 g pro dosi, 0,5 g pro die Extractum Hyoscyami (DAB. VI);
1,5 g pro dosi, 3 g pro die Tinct. Hyoscyami (Ergb.).
Rezeptpflichtig:
Folia Hyoscyami, Herba Hyoscyami, Extractum Hyoscyami.
Homöopathische Zubereitungen bis D 3 einschließlich.
Rezepte:
Bei Asthma als Räuchermittel (nach Klemperer-Rost):
Rp.:
Fol. Hyoscyami
Fol. Stramonii
Kal. nitric. aa 10
M.d.s.: Räucherpulver.
Rezepturpreis ad scat. etwa -.97 RM.
Zu beruhigenden Klistieren:
Rp.:
Fol. Hyoscyami 0,4
D.s.: Zum Infus mit 1 Tasse Wasser durchseihen und zu 1 Klistier verwenden.
________________________________Inhaltsverzeichnis: Lehrbuch der biologischen Heilmittel, Gerhard Madaus (+ 1942), Ausgabe Leipzig 1938 Auf Bilder / Photos des Lehrbuches wurde wegen mangelnder Aktualität / Qualität verzichtet. Ebenso ist die Einführung in dieser Online-Version nicht vorhanden. Sie können hier ausschließlich auf die Besprechung der einzelnen Pflanzen zurückgreifen. Die Rezepturen werden in das Kompendium im Laufe der Zeit eingearbeitet. Vorhandene Fotos: Rechte beim Verlag erfragbar.