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Fliegenpilz, Agaricaceae.

Name:

Agáricus muscárius L. (Agaricus imperialis Batsch, = Amanita muscaria [L.] Pers.). Fliegenblätterpilz, Fliegenschwamm, Gemeiner Fliegenpilz, Roter Fliegenpilz, Mückenpilz. Französisch: Agaric moucheté, fausse orange; englisch: Fly Agaric, bug agaric; italienisch: Tignosa dorata, ovolo malefico; agarico; dänisch: Röd Fluesvamp; norwegisch: Fluesopp; polnisch: Muchomor; russisch: Muchomor; tschechisch: Muchomůrka obecna; ungarisch: Legyölö galoca.

© Gisa, Agaricus

© Gisa, Agaricus

Verbreitungsgebiet

Weiteres Vorkommen: Nordamerika, Nordasien, Südafrika.

Namensursprung:

Agaricus kommt vom griechischen άγαριχν (agarikón) = Zunderschwamm, so benannt nach der Landschaft Agaria in Dalmatien; muscarius wird vom lateinischen musca = Fliege abgeleitet, weil der Pilz zur Vertreibung der Fliegen benutzt wird. Ebenso ist der deutsche Name Fliegenpilz entstanden.

Botanisches:

Außer in Australien wird dieser giftige, 10-20 cm hohe Pilz in allen Erdteilen gefunden. Ende Sommer und im Herbst erscheint er mit zinnober- bis orangerotem Hut und weißen Warzen in lichten Wäldern und an Waldrändern.

Geschichtliches und Allgemeines:

Der Fliegenpilz, der in manchen Gegenden als Fliegen- und Wanzengift angewandt wird, ist nicht allen Tieren der niederen Klassen nachteilig. So wird er z. B. häufig von Schnecken benagt. Hertwig, der an Hunden und einem Schafe Versuche anstellte, sah als Wirkung zwar Ekel, Erbrechen und Traurigkeit, jedoch erholten die Tiere sich bald wieder. Am menschlichen Organismus haben sich leider die giftigen Eigenschaften des Pilzes häufig gezeigt. Durch Schälen kann der Pilz nur teilweise entgiftet werden. Am giftigsten sind allerdings die Warzen. Dann folgen der Hut, die weißen Lamellen und der Stiel, der mit einem häutigen Ring versehen ist. Merkwürdig erscheint es, daß verschiedene Völkerschaften Nordasiens (Samojeden, Ostjaken, Tungusen, Jakuten u. a.) den Fliegenpilz als berauschendes Mittel gebrauchen. Er wird auf verschiedene Weise zubereitet von ihnen genossen. Nach einer bis zwei Stunden beginnt die Wirkung, die häufig mit Ziehen und Zucken der Muskeln und Sehnenhüpfen verbunden ist. Die Menschen werden in steigendem Maße lustig und zeigen auch, bei teilweisem Schwindel und Taumeln, ungewöhnliche körperliche und geistige Kräfte. Nur ausnahmsweise zeigt sich eine traurige Gemütsstimmung. Aus dem Schlaf, in den die Berauschten verfallen, erwachen sie mit großer Mattigkeit, benommenem Kopfe und aufgedunsenem Gesicht. Das berauschende Prinzip des Pilzes geht in den Harn über, und so unwahrscheinlich es klingen mag, berichten doch verschiedene Reisende, daß bei den genannten Völkerschaften auch der Urin der Berauschten benützt, und auf diese Weise die Berauschung selbst auf die vierte und fünfte Person übertragen werde. Eine ähnliche berauschende Wirkung wie Agaricus muscarius besitzt auch der in Mexiko heimische und zu der gleichen Gattung gehörige Pilz Amanita mexicana (Nánacátl). Wie Reko in seinem Buche „Magische Gifte“ berichtet, gebrauchen die Pima-Indianer die Köpfe der jungen Nánacátl-Pilze im frischen Zustande, um daraus einen Trank zu bereiten, der „wieder jung macht, besser sehen und hören und freudiger lieben läßt“. Mit dem Bilsenkraut zusammen soll der Fliegenpilz, wie Zaunick in seiner Schrift „Die Fischerei-Tollköder in Europa vom Altertum bis zur Neuzeit“ berichtet, als Köder beim Vogelfang verwendet worden sein.

Agaricus muscarius ist nicht zu verwechseln mit Agaricus albus, dem Lärchenschwamm oder Purgierschwamm, der in bitteren Teemischungen und in Schnäpsen früher als Abführmittel viel gebraucht wurde, und dessen Agaricinsäure (Acidum agaricinicum, Agaricinum) in der experimentellen Medizin zu Studien der schweißbeschränkenden Wirkung benutzt wurde. Das Agaricin wird in der Einzelmaximaldosis von 0,1 g äußerst selten gegen profuse Schweiße der Phthisiker gebraucht.

Wirkung

Von Paracelsus wird Agaricus zur Verhütung von Phthise und Diabetes, als fliegentötendes Mittel, vor allem aber gegen Würmer empfohlen (es steht jedoch nicht fest, ob er Agaricus muscarius meint; wahrscheinlich ist unter seinem „Agaricus“ der Lärchenschwamm zu verstehen wie bei Matthiolus, v. Haller u. a. auch).

Bei der Anführung des Agaricus durch Johann Wittich kann man allerdings annehmen, daß es sich um den Fliegenpilz handelt, da ihn Wittich auch gegen Epilepsie verordnet. Außerdem soll Agaricus Gehirn, Lunge, Brust, Magen, Leber, Niere, Milz und Uterus von „böser Feuchtigkeit“ und „zähem groben Schleim“ reinigen, purgieren und bei Schwindel, Kopfschmerz und Apoplexie dienlich sein.

Chr. Bernhard ließ ihn innerlich in Essig bei Epilepsie nehmen. Äußerlich brauchte er ihn mit Nutzen bei bösartigen Geschwüren, bei Blattern im Auge, bei fressenden Geschwüren, bei Wunden nach Operationen, beim Beinfraß, um das wilde Fleisch zu tilgen, bei Knoten in den Brüsten und bei Skrofeln, auch zur Ausrottung der Balggeschwülste und beim Brande.

In ähnlicher Weise wird er auch von Hecker empfohlen.

Als Volksmittel bei rheumatischen Schmerzen wird der Fliegenpilz von Osiander genannt.

Über die Anwendung in der russischen Volksmedizin gibt der nachstehende, einer Arbeit von W. Demitsch entnommene Abschnitt einen Überblick:

„Krebel (Volksmedizin und Volksmittel verschiedener Völkerstämme Rußlands. Skizzen. Leipzig und Heidelberg, 1858) führt das Pulver des Fliegenschwamms, innerlich zu 0,3-1,0 auf einmal genommen, als ein Volksmittel gegen Lähmungen und Nervenkrankheiten an. Bei rheumatischen Schmerzen wird der Pilz äußerlich in Form einer Salbe gebraucht. – Der Saft des Agaricus muscarius wird im Gouvernement Moskau bei Erkältungsschmerzen und skrofulösen Geschwülsten zu Einreibungen verwendet (W. Deriker, Zusammenstellung von Volksheilmitteln, die in Rußland von Zauberern gebraucht werden. St. Petersburg 1866, S. 36). – Im Permschen Gouvernement wird der frische zu einem Brei zerriebene Pilz auf Schwellungen des Körpers gelegt; mit dem Saft desselben reibt man die Arme bei rheumatischen Schmerzen ein (P. Krilow, Arbeiten der Naturforscher-Gesellschaft bei der Universität Kasan, Bd. V, Heft II, Kasan 1876, S. 70). Im Gouvernement Grodno behandelt man den einfachen und blutigen Durchfall mit dem Pulver von rotem Fliegenpilze, welches mit Branntwein kalt infundiert wird: etwa ein halbes Spitzgläschen davon auf einmal genommen, soll den Durchfall beseitigen (N. Annenkow, Botanisches Lexikon, St. Petersburg 1878, S. 388). Auch im Mohilewschen Gouvernement gilt es beim Volke für das beste äußerliche Mittel gegen rheumatische Schmerzen. Die weisen Frauen bereiten daselbst aus den frischen Pilzen einen Saft, mit welchem kranke Stellen des Körpers eingerieben werden (Tscholowski, Entwurf der Flora des Gouvernements Mohilew, in Dembowetzkis „Versuch einer Beschreibung des Gouvernements Mohilew“, 1882, S. 396). – Ein kaltes Branntweininfus von den pulverisierten Pilzen (ein halbes Spitzgläschen auf einmal) gebraucht das Volk bei Cholera und Krankheiten des Verdauungstraktus (Romanowski, Anti-Cholera-Volksmittel, Wratsch 1835, Nr. 23). – In Kleinrußland wird Agaricus muscarius vom Volke mehrfach benutzt, um Mäuse, Ratten usw. zu vergiften.“

Friedrich berichtet von günstigen Erfolgen durch Agaricus muscarius-Verabreichung bei Epilepsie.

In Amerika gebraucht man eine Tinktur daraus mit gutem Erfolg bei Ataxie, Chorea und Perniones.

Bei einer Frau mit inoperablem Uteruskarzinom beobachtete Opitz, daß nach Genuß größerer Quantitäten dieses Pilzes die Blutungen und Jauchungen vollständig aufhörten, und der Tumor sich in eine derbe schmerzlose Geschwulst umwandelte. Er schreibt die heilkräftige Wirkung des Fliegenpilzes seinem Gehalt an Cholin zu.

Das im Fliegenpilz enthaltene Muscarin greift wahrscheinlich unmittelbar am Zentralnervensystem an, bewirkt eine dauernde Vaguserregung und ist das erstentdeckte Gift, dessen Wirkungen sich genau mit den Erfolgen einer natürlichen oder künstlichen Erregung eines Nerven decken, in diesem Falle des Herzvagus. Es kommt zu starker Pulsverlangsamung, schließlich zum Herzstillstand in Diastole.

Durch Rückstauung wird eine Blutüberfüllung des Lungenkreislaufs und damit Dyspnoe bewirkt. Dazu kommt eine Kontraktur der Bronchialmuskulatur, so daß der Tod durch Erstickung eintritt. Dabei wirkt unterstützend die Sekretausscheidung in den Atemwegen.

Es verursacht Salivation, Tränenfluß und Hyperhidrosis, regt die Darm-, Leber- und Pankreassekretion an, vermindert aber die Sekretion der Nieren. Es erzeugt Störungen im Gastrointestinaltrakt, tetanische Darmkontraktionen, schwere Koliken, Vomitus und wirkt purgierend.

Auch Akkomodationsspasmen, Myosis und Kontraktion der Pupille werden nach innerlichen Muscaringaben beobachtet, während bei lokaler Anwendung die Pupille dilatiert wird. Die Körpertemperatur sinkt und die Ausscheidung der Abfallstoffe ist vermindert.

Der Antagonist von Muscarin ist Atropin, und zwar bis in alle Einzelheiten der Aktionsphasen, so daß es kein besseres Beispiel von physiologischem Antagonismus gibt als diese beiden Alkaloide.

Über die Muscarinwirkung liegt – namentlich aus dem vorigen Jahrhundert – eine sehr reichhaltige Literatur vor, von der ich die wichtigsten Arbeiten in der Fußnote  zitiere. Eine ausführliche Darstellung der Muscarinwirkung gibt auch Fühner, und eine solche der Fliegenpilzpharmakologie und -toxikologie Faust. Ferner vgl. auch im allgemeinen Teil das Kapitel Muscarin.

Außer dem Muscarin enthält der Fliegenpilz noch Cholin (= Trimethyloxaethylammoniumhydroxyd), eine noch unbekannte, vielleicht dem Muscarin nahestehende Base Muscaridin (ihrer pharmakologischen Wirkung wegen auch Pilzatropin genannt), ferner ein flüchtiges, vielleicht mit dem aus dem Pilz isolierten Terpen Amanitol identisches Gift und ein Toxin (Toxalbumin?).

Das Cholin besitzt muscarinähnliche Wirkung, ist aber, besonders hinsichtlich der Beeinflussung der Herztätigkeit und der Bronchien, soviel weniger wirksam als Muscarin, daß es in der im Fliegenpilz vorkommenden Menge kaum giftig sein dürfte. Durch Acetylierung kann das Cholin sehr stark in seiner Wirksamkeit gesteigert werden, und bei Fäulnisprozessen entsteht aus ihm das sehr giftige „Ptomain“ Neurin. Das Muscaridin = Pilzatropin hat eine atropinartige, zentralerregende Wirkung und verursacht Aufregungs-, Tobsuchts- und Verwirrungszustände mit Sinnestäuschungen und Pupillenerweiterung. Das Toxin erzeugt Reflexsteigerung und Krämpfe.

Vergiftungen mit dem Fliegenpilz sind verhältnismäßig selten. Je nachdem ob der Gehalt an Muscarin oder Muscaridin vorherrscht (in Deutschland sollen die Fliegenpilze reicher an Muscarin als an Muscaridin sein, während die als Rauschgift benützten, in Nordosteuropa und -asien wachsenden muscarinfrei sein sollen), schwankt auch das Bild der Vergiftungssymptome. In der Regel treten 1/2-2 Stunden nach Genuß des Pilzes rauschartige Aufregungs- und Verwirrungszustände, Krämpfe, Speichelfluß, Brustbeklemmung, Atemnot, Schlingkrämpfe, Durst, Erbrechen, Koliken, stärkste Diarrhöen und Pupillenverengerung ein. Die letzteren drei Symptome können aber auch fehlen, auch wird an Stelle der Pupillenverengerung häufig -erweiterung beobachtet. Der Tod erfolgt meist nach 6-12 Stunden in dem nachfolgenden Stadium der Erschöpfung.

In der Homöopathie gehört Agaricus muscarius zu den häufig gebrauchten Mitteln. Hahnemann selbst schildert die homöopathische Wirkungsweise wie folgt: „Die schädlichen Wirkungen, welche einige Schriftsteller und unter ihnen Georgi vom Genusse des Fliegenschwammes bei den Kamtschadalen anmerken, Zittern, Convulsionen, Fallsucht, wurden wohltätig unter den Händen Whistlings, der sich des Fliegenschwammes mit Glück gegen Convulsionen mit Zittern begleitet, und unter Bernhardts Händen, der sich desselben hülfreich in Fallsuchten bediente.“

In der homöopathischen Literatur der Gegenwart werden als wichtigste Indikationen genannt: Chorea, Nystagmus, Gehirnübermüdung, multiple Sklerose, Trigeminusneuralgie, Ejaculatio praecox, gesteigerte Libido ohne Wollustgefühl mit Impotenz, Hautjucken und Frostbeulen.

Nach Schlegel wurde Agaricus D 6 bei multipler Sklerose mit Blasenschwäche mit so regelmäßigem Erfolge angewandt, daß das Mittel hier sogar als spezifisch bezeichnet wird.

Verwendung in der Volksmedizin außerhalb des Deutschen Reiches (nach persönlichen Mitteilungen):

Polen: Die Tinktur zu Einreibungen bei Rheumatismus.

Anwendung in der Praxis auf Grund der Literatur und einer Rundfrage:

Agaricus muscarius wird in der Homöopathie bei Cerebrospinalirritation (erst Erregung, dann Lähmung), insbesondere Chorea und Epilepsie sowie Zucken der Augenlider und Muskelzuckungen verordnet. Im einzelnen kommen die neurotropischen Beziehungen dieses Mittels noch bei folgenden Indikationen zum Ausdruck: Gehirnübermüdung, Tabes, Nystagmus, Mouches volantes, Tremor, nervöser Übererregbarkeit, nervösen Lähmungen, multipler Sklerose und Schwindelgefühl.

M. Flähmig nennt es in Verbindung mit Anacardium und Acidum picronitr. ein glänzend bewährtes „Gehirnfutter“ für Schüler und Studenten.

Klimakterische Beschwerden (Schweiße, Erregung, Kopfschmerzen und Herzklopfen) werden günstig durch Agaricus im Wechsel mit Hyoscyamus beeinflußt. Ebenso wird es gegen Pollutionen verordnet.

Bei Hautleiden der verschiedensten Genese zeigt es sich wirksam. So lobt es Pöller, Gevelsberg, bei Afterjucken und Hautjucken der Diabetiker. Zur Unterstützung von lokalen Meerrettichbädern wird Agaricus innerlich gern gegen Perniones gegeben.

Mit Erfolg wurde es auch gegen die Vergiftungssymptome nach schweren Verbrennungen angewandt.

Angewandter Pflanzenteil:

Zur Herstellung der homöopathischen Essenz wird der frische oberirdische Fruchtkörper verwendet (§ 3), ebenso wird auch das „Teep“ aus dem frischen oberirdischen Fruchtkörper bereitet.

Dosierung:

Übliche Dosis:

0,06-0,12 g des Pulvers täglich (Friedrich).

1 Tablette der Frischpflanzenverreibung „Teep“ dreimal täglich.

(Die „Teep“-Zubereitung ist auf 0,1% Agarici muscarii eingestellt, d. h. 1 Tablette enthält 0,00025 g Agarici muscarii.)

In der Homöopathie:

dil. D 4, dreimal täglich 10 Tropfen.

Maximaldosis:

Nicht festgesetzt, doch können größere Dosen schädliche Nebenwirkungen zur Folge haben.

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Inhaltsverzeichnis: Lehrbuch der biologischen Heilmittel, Gerhard Madaus (+ 1942), Ausgabe Leipzig 1938
Auf Bilder / Photos des Lehrbuches wurde wegen mangelnder Aktualität / Qualität verzichtet. Ebenso ist die Einführung in dieser Online-Version nicht vorhanden. Sie können hier ausschließlich auf die Besprechung der einzelnen Pflanzen zurückgreifen. Die Rezepturen werden in das Kompendium im Laufe der Zeit eingearbeitet. Vorhandene Fotos: Rechte beim Verlag erfragbar.

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